Flucht aus Afghanistan endet in der Stuckertstraße

Wenn vor Lampedusa wieder mal ein völlig überladenes Schiff mit Flüchtlingen aus Eritrea oder Somalia kentert und das Fernsehen die dramatischen Bilder sozusagen „live und in Farbe“ in die Zwingenberger Wohnzimmer überträgt, dann mag so mancher Zuschauer denken, dass die italienische Mittelmeerinsel und damit die Tragödie weit entfernt sind. Doch weit gefehlt – das Drama ist zum Greifen nah:
Junge Schicksale

In den Wohngruppen der „Orbishöhe“ – auf der Heide oder in der Stuckertstraße – leben unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF), nicht nur aus Afrika, sondern beispielsweise auch aus Afghanistan, die nach zum Teil mehrjähriger Flucht zu Land und zu Wasser von der Jugendhilfeeinrichtung betreut werden. Ihre Schicksale waren am Donnerstagabend Schwerpunkt eines äußerst aufschlussreichen Informationsbesuches, den die Zwingenberger Sozialdemokraten der gemeinnützigen GmbH, die „pädagogische Hilfen für Kinder und Jugendliche“ leistet, abgestattet hat.

SPD-Fraktionsvorsitzende Dr. Regina Nethe-Jaenchen, Stadtverordneter Dr. Rainer Schneider (Mitglied des Sozial-, Kultur- und Sportausschusses) sowie stellvertretender Parteichef Florian Kern knüpften damit an einen Besuch von vor zwei Jahren an, bei dem die Flüchtlingsproblematik noch nicht – oder vielmehr: nicht mehr – diese zentrale Rolle in der Arbeit des hundertprozentigen Tochterunternehmens der Nieder-Ramstädter Diakonie (NRD) gespielt hatte.

Nachdem die zunächst letzte Gruppe, in der die „Orbishöhe“ unbegleitete minderjährige Flüchtlinge betreut hatte, vor wenigen Jahren mangels Nachfrage geschlossen werden konnte, betreibt man mittlerweile im ältesten Bergstraßenstädtchen und in der Region wieder fünf Wohngruppen, in denen vor allem jugendliche Asylbewerber betreut werden. Und die Kapazitäten reichen hier wie anderswo nicht aus, berichtete Gastgeber Horst Wann, Geschäftsführer der „Orbishöhe“, gemeinsam mit Ulrike Schmidt-Stampfer (Fachreferentin der Geschäftsleitung), Nicole Steigler (pädagogische Leitung) und Matthias Cordt (Fachbereichsleitung) den interessierten Gästen.
Beeindruckende Präsentation

Mit einer beeindruckenden Präsentation und vielen Erfahrungsberichten skizzierte Matthias Cordt, in der „Orbishöhe“ maßgeblich verantwortlich für die Arbeit mit den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, den Weg des 14-jährige Afghanen Reza, der nach einer drei Jahre währenden Flucht vor dem Terror durch Pakistan, den Iran, die Türkei, Griechenland und Italien in Deutschland ankommt und nach einem Aufenthalt in einer Erstversorgungseinrichtung in Frankfurt von den Mitarbeitern der „Orbishöhe“ betreut wird. Wie Cordt ausdrücklich betonte ein „fiktiver Fall“, aber beispielhaft für die Schicksale, um die sich die Pädagogen kümmern müssen.

Im Gegensatz zu den erwachsenen Flüchtlingen, die von der Stadt Zwingenberg seit diesem Jahr durch Zuweisung des Landkreises in einer kommunalen Wohnung im Alten Amtsgericht oder in der Obdachlosenunterkunft am Sportplatz untergebracht wurden (wir haben berichtet), erfahren die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge eine deutlich bessere Versorgung: Sie werden nämlich nicht nach Asyl-, sondern nach Jugendhilferecht betreut.

Ein Beispiel: Während Deutschkurse für die erwachsenen Eritreer ehrenamtlich organisiert werden müssen – in Zwingenberg kümmern sich DRK und katholische Kirche darum -, haben die sogenannten „UMF“ einen Anspruch auf einen entsprechenden Sprachkurs. Die Unterbringung erfolgt nicht in großen Gemeinschaftseinrichtungen, einen Rechtsbeistand gibt es von Anfang an – und, ganz wichtig, der Personaleinsatz in Sachen pädagogischer Betreuung ist bei Flüchtlingen in den Jugendhilfeeinrichtungen ungleich größer als das, was Kreis oder Kommune personell zu leisten vermögen.

Das Ziel der „Orbishöhe“ ist es, die jungen Menschen aus fernen Ländern „fit für die Selbstständigkeit“ zu machen, „ihnen Lebenspraxis zu vermitteln“, wie es Matthias Cordt zusammenfasst. Und das gelingt – nicht immer, aber sehr, sehr oft.

Als gutes Beispiel dient dem Team eine junge Frau aus Eritrea, die als „UMF“ von der „Orbishöhe“ betreut wurde – nach einer Hauswirtschaftslehre arbeitet sie heute als Angestellte der Nieder-Ramstädter Diakonie in einer Wohngruppe in Mühltal.

© Bergsträßer Anzeiger, Samstag, 23.08.2014
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