
Von Thomas Tritsch
Zwingenberg. Ende 1938 kam es zu einer Massenflucht aus Deutschland. Der Nationalsozialismus hatte die Faust geballt. Die Tage vom 9. und 10. November markierten den Übergang von der Diskriminierung zur systematischen Verfolgung und existentiellen Vernichtung der Juden in Deutschland. 77 Jahre später pöbeln Asylgegner auf offener Straße gegen Zuwanderung. Flüchtlingsunterkünfte brennen. „Wir haben heute die Pflicht, Verfolgten eine sichere Zuflucht zu gewähren“, so Monika Kanzler-Sackreuther vom „Darmstädter Bündnis gegen Rechts“ in Zwingenberg.
Null Toleranz für rechte Töne
Die SPD hatte zur Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus eingeladen. Die Remise war bis auf den letzten Platz gefüllt, als Ortsvereinsvorsitzender Florian Kern zur 30. Veranstaltung dieser Art begrüßte. Kern plädierte für einen „täglichen Aufstand der Anständigen“ in Anlehnung an ein Zitat des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder am 4. Oktober 2000 nach einem Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge. Der junge SPD-Vorsitzende versteht das gesellschaftliche Engagement gegen Rechtsextremismus als Teil der bundesdeutschen Staatsräson. In der politischen Auseinandersetzung mit diesem Thema sein kein Platz für Toleranz. Die öffentliche Gedenkstunde sei Erinnerung und Mahnung zugleich.
Bürgermeister Dr. Holger Habich dankte dem Ortsverein für die alljährliche Durchführung der Veranstaltung, die mit einer Schweigeminute an der Namenstafel im Rathaushof abgeschlossen wurde.
Konsequent Widerstand leisten
„Wehret den Anfängen“, so Monika Kanzler-Sackreuther in Sorge um die aktuelle Situation im Land. Die Gewerkschafterin (Verdi) vom „Bund der Antifaschisten“ sieht durchaus Parallelen zur Vergangenheit: Wenn man Pogrom als gewaltsame, organisierte Massenausschreitung gegen Mitglieder religiöser, nationaler oder ethnischer Minderheiten oder Bevölkerungsgruppen verstehe, dann seien ähnliche Tendenzen nicht von der Hand zu weisen. „Wir müssen Rassismus und rechter Hetze in jeder Form konsequent entgegen treten.“ Ein NPD-Verbot sei überfällig.
Der 9. November als Tag des kollektiven Erinnerns müsse auch als Warnung verstanden werden, dass sich die Vergangenheit niemals wiederholen möge. In ihrer Rede streifte Kanzler-Sackreuther auch ein Stück Lokalgeschichte: Am 29. Juni 1938 war Zwingenberg „judenfrei“. Am 10. November gab es Anschläge auf jüdische Häuser und Geschäfte am Marktplatz und in der Obergasse. Die Bevölkerung schaute der Zerstörung des Alsbacher Judenfriedhofs zu, etliche Grabsteine wurden mitgenommen und am eigenen Haus verbaut.
Die Rednerin skizzierte den aufkeimenden Nationalismus nach dem Ersten Weltkrieg Ferdinand In Hessen trat Friedrich Karl Werner in die „Deutschnationale Volkspartei“ ein. 1921 wurde er Abgeordneter der DNVP im Landtag des Volksstaates Hessen. Er war der erste nationalsozialistische Staatspräsident des Landes. Der Darmstädter Werner Best wurde 1933 Polizeichef in Hessen.
„Den Juden wurde Stück für Stück der Boden für ein menschenwürdiges Leben entzogen“, so Monika Kanzler-Sackreuther, die der „Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes“ angehört. Ab 1933 wurden eine halbe Millionen Menschen aus dem Land getrieben, viele wurden in Konzentrationslager gebracht oder auf der Straße getötet. Die Emigranten flohen zunächst ins europäische Ausland, nach Kriegsbeginn meist nach Übersee: USA, Palästina, Südafrika oder Südamerika. „Mehr als zwei Drittel konnten ihren erlernten Beruf nicht ausüben. Handwerker und Ingenieure hatten es meist einfacher als Ärzte oder Rechtsanwälte.“ Für diese Menschen war die Emigration fast immer ein endgültiger Bruch mit der alten Heimat, so die Referentin. „Eine Starthilfe gab es nicht, alle waren auf sich gestellt.“
Die Ursachen der Flucht bekämpfen
77 Jahre später sind rund 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Vor Menschenrechtsverletzungen, politischer Verfolgung oder wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit. „Die Wenigsten schaffen den Weg über die Balkanroute oder das Mittelmeer“, so Kanzler-Sackreuther. Nun sei es soweit, dass eines der reichsten Länder der Erde täglich den Ausnahmezustand verkünde. Landkreise und Kommunen seien überfordert, die Flüchtlinge menschenwürdig unterzubringen. „Klare Hassparolen werden als berechtigte Sorgen der Bürger bezeichnet.“ Die Zahl der „sicheren Herkunftsländer“ wächst, Wirtschaftsflüchtlinge werden als gefährlicher Zustrom in die deutschen Sozialsysteme gesehen. „Wir brauchen eine andere globale Wirtschaftsordnung, um die Motive der Flucht einzudämmen.“ Die Gewerkschafterin fordert einen Stopp deutscher Waffenexporte und keine Zusammenarbeit mit Diktatoren, die ihr Volk unterdrücken. „Die weltweite Flucht ist ein Ausdruck von Zuständen, die deutsche und europäische Politik wesentlich mit zu verantworten hat.“
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© Bergsträßer Anzeiger, Donnerstag, 12.11.2015